Autismus, Trauma - oder beides?
- Melanie
- 10. Apr.
- 5 Min. Lesezeit

Wer sich eine Weile mit Autismus beschäftigt, stößt früher oder später auf den Begriff „Trauma“. Betroffene stellen sich dabei immer wieder ähnliche Fragen:
„Bin ich traumatisiert?“,
„Ist es vielleicht gar kein Autismus?“,
„Bilde ich mir das alles nur ein?“
Dabei muss man berücksichtigen, dass der Begriff „Trauma“ heute häufig inflationär verwendet wird – nicht, weil traumatisierte Menschen offener darüber sprechen, sondern weil selbst alltägliche Konflikte und Belastungen schnell als traumatisch bezeichnet werden. Doch genau darum geht es hier nicht.
Die Deutsche Traumastiftung definiert ein Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betroffenen Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft das Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer als auch psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine ‚seelische Verletzung‘ verstehen.“
Auch der Psychotherapeut Pete Walker beschreibt, dass Kinder, die in einem stark dysfunktionalen Elternhaus aufwachsen und dort Ablehnung, Vernachlässigung oder Verachtung erleben, Symptome einer Traumatisierung oder sogar einer Traumafolgestörung entwickeln können.
Ein Trauma muss also nicht zwangsläufig durch ein einzelnes Schockereignis oder einen sexuellen Übergriff ausgelöst werden. Häufig sind es grundlegende Bedürfnisse, die über lange Zeit hinweg nicht erfüllt, ignoriert, abgewertet oder sogar lächerlich gemacht werden. Wird das über Jahre hinweg wiederholt, kann sich ein tiefes seelisches Leid – also ein Trauma – entwickeln. Und wenn dieses Trauma nicht verarbeitet wird, kann daraus eine Traumafolgestörung entstehen.
(Wichtig zu betonen: Nicht jedes Trauma führt automatisch zu einer Traumafolgestörung. Auch nehmen Menschen belastende Situationen sehr unterschiedlich wahr – Resilienz ist individuell verschieden.)
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Was hat das mit Autismus zu tun?
Autistische Menschen haben – zusätzlich zu den allgemeinen menschlichen Grundbedürfnissen – einige spezifisch autistische Bedürfnisse. Dazu gehören etwa das Bedürfnis nach Gleichförmigkeit und Vorhersehbarkeit oder der Schutz vor Reizüberflutung. Auch die Art und Weise, wie sie ihre Bedürfnisse äußern, unterscheidet sich: Nähe wird zum Beispiel oft nur dann zugelassen, wenn sie selbst die Initiative ergreifen.
Wenn das Umfeld – insbesondere das Elternhaus – nichts vom Autismus des Kindes weiß, besteht die Gefahr, dass seine Grenzen immer wieder, bewusst oder unbewusst, überschritten werden. Bleibt dieses Verhalten bestehen, lernt das Kind, all seine Energie in Anpassung und Kompensation zu investieren. Es fühlt sich dauerhaft überfordert und allein, versucht verzweifelt dazuzugehören – und hält diesen immensen Energieaufwand für „normal“.
Es erlebt es als selbstverständlich, nach der Schule völlig ausgelaugt zu sein – schließlich bekommt es von den Eltern nichts anderes gespiegelt. Es verinnerlicht, dass es normal sei, eigene Grenzen ständig zu übergehen, eine überfordernde Umwelt auszuhalten und als Einziges nicht zu verstehen, wie diese Welt funktioniert.
Gleichzeitig lernt es: Meine Bedürfnisse sind unwichtig. Vielleicht dürfen sie gar nicht existieren. Denn wenn es sie äußert, stößt es auf Unverständnis oder – im schlimmsten Fall – auf Ablehnung und Mobbing.
So unterdrückt es seine autistischen Bedürfnisse immer stärker und nimmt eine sozial akzeptierte Identität an. Die Eltern freuen sich vielleicht über das „angepasste“ Verhalten – merken aber nicht, welchen Leidensdruck das Kind dabei empfindet.
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Wenn dieses Kind später – vielleicht Mitte zwanzig – noch immer nicht weiß, dass es autistisch ist, steigt das Risiko für Burnout, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Viele haben bis dahin bereits psychotherapeutische Erfahrungen gesammelt – weil die dauerhafte Ablehnung der eigenen Bedürfnisse enorm viel Kraft kostet und tiefen Leidensdruck erzeugt.
Im Kern geschieht hier genau das, was Pete Walker beschreibt: Grundbedürfnisse werden missachtet.
Ob bewusst oder unbewusst, spielt dabei keine Rolle.
Vielleicht wussten die Eltern es einfach nicht besser, waren selbst neurodivergent oder traumatisiert, lebten Anpassung unbewusst vor, deuteten die Signale des Kindes falsch oder hatten feste Vorstellungen davon, wie das Kind „sein sollte“. Manche lehnten autistische Eigenschaften sogar bewusst ab oder machten sich über die besonderen Bedürfnisse des Kindes lustig.
In solchen Fällen erfährt das autistische Kind eine massive Invalidierung:
Seine Bedürfnisse werden nicht gesehen – oder als unwichtig abgetan.
Natürlich ist das kein allgemeingültiges Beispiel. Es ist vielmehr eine Skizze – basierend auf Erfahrungen, die ich in meiner Arbeit mit Klient:innen immer wieder beobachte.
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Eine Herausforderung für Diagnostiker:innen
Solche biografischen Hintergründe stellen Fachkräfte bei der Diagnostik vor eine komplexe Aufgabe.
Denn: Manche autistische Menschen entwickeln infolge dieser Erfahrungen tatsächlich eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS). In solchen Fällen liegen möglicherweise sowohl eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als auch eine kPTBS vor.
Nicht selten wird jedoch zunächst nur die kPTBS erkannt, während der Autismus übersehen wird – weil die Symptomatik scheinbar vollständig im Trauma aufgeht. Umgekehrt kommt es vor, dass der Autismus zuerst erkannt wird, die kPTBS jedoch unbehandelt bleibt.
Das wäre zwar insofern vorteilhaft, als die grundlegenden Schwierigkeiten benannt werden – das Trauma aber bleibt weiterhin unbearbeitet, was langfristig problematisch ist.
Häufig werden Betroffene auch falsch diagnostiziert, etwa mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression oder Zwangsstörung – weil Fachkräfte zu wenig über das Zusammenspiel von Autismus und Trauma wissen.
Eine umfassende Diagnostik, inklusive detaillierter biografischer Anamnese, ist deshalb essenziell.
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Masking – und die Schwierigkeit, sich selbst zu erkennen
Ein weiteres Problem ist, dass viele Betroffene – oft über Jahrzehnte – gar nicht mehr wissen, was ihre eigenen Bedürfnisse eigentlich sind.
Durch jahrelanges Masking haben sie eine sozial erwünschte Identität aufgebaut – häufig so überzeugend, dass sie selbst daran glauben. Sie merken zwar, dass sie Schwierigkeiten in sozialen Situationen haben oder mit Reizüberflutung kämpfen, aber sie nehmen ihre Bedürfnisse nicht mehr als legitime Signale wahr.
Sie wissen oft nicht, wie sehr sie auf Routinen und Vorhersehbarkeit angewiesen sind, wie belastend manche Kleidung oder bestimmte Nahrungsmittel sein können oder wie viel sie eigentlich „stimmen“ (also selbststimulierende Verhaltensweisen zeigen) möchten.
Sie glauben, das alles „trifft vielleicht ein bisschen auf sie zu“ – und merken nicht, wie sehr sie sich von ihrem echten Selbst entfernt haben.
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Diagnostik im Erwachsenenalter – Autismus oder kPTBS?
Kann man im Erwachsenenalter eindeutig sagen, ob jemand autistisch ist oder eine kPTBS hat?
Ja, das ist möglich!
Dafür ist allerdings eine sorgfältige biografische Analyse unerlässlich. Es lohnt sich, auf folgende Aspekte zu achten:
Wie war das Verhältnis zu den Eltern?
Gab es bei den Eltern bereits Neurodivergenzen?
Bestand Mobbing?
Gab es Situationen in denen die Betroffenen Situationen als bedrohlich / stark überfordernd erlebt haben?
Wie war der Eintritt in die Schule / Ausbildung?
Wirkt die Person sehr angepasst, sehr vorsichtig, fasst schon fasadär?
Wirkt die Person "verschreckt"?
War die Person eine Pflegeperson für einen Angehörigen?
Es erfolgt die typische Diagnostik der ASS mit den gängigen Tests. Ein Autismus-Interview mit den Betroffenen (z.B. AAA) ist ebenfalls wichtig, um Masking aufzudecken (z.B. wie analysieren die Betroffenen Gesichter).
Außerdem sollte ein Traumainterview durchgeführt werden – mit besonderem Augenmerk auf Situationen, die die betroffene Person als bedrohlich erlebt hat.
Und: Beobachtet die Person selbst Veränderungen während des diagnostischen Prozesses?
• Zeigen sich im Verlauf verstärkt autistische Verhaltensweisen?
• Spricht sie plötzlich von Stimming oder sensorischen Überforderungen?
All diese Beobachtungen helfen dabei, eine differenzierte und zutreffende Diagnose zu stellen – und dem Menschen dahinter ein Stück näher zu kommen.
Abschließend möchte ich noch eine grobe Differenzierung von Traumafolgestörung (hier kPTBS) und Autismus mit euch teilen:

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