top of page
AutorenbildMelanie

Warum werde ich nicht ernst genommen? – Neurodivergenz und medizinisches Unverständnis


Während meiner Tätigkeit in einer Privatklinik ist mir eine Patientin besonders im Gedächtnis geblieben. Es war meine Aufgabe, mit ihr ein EEG durchzuführen. Die Patientin, in ihren mittleren Fünfzigern, sehr schlank und mit einem ausgeprägten Redefluss, machte auf mich einen sehr einfühlsamen und sensiblen Eindruck. Sie teilte mir ihre Erfahrungen mit Ärzten mit, wie stark sie ihren Körper empfand, ihre hohe Schmerzempfindlichkeit und die intensive Wahrnehmung jeglicher körperlicher Regungen. Sie konnte mir in beeindruckender Detailtreue ihre Innenwelt zeigen. Bedauerlicherweise wurde sie von Arzt zu Arzt geschickt, da ihre diffusen Körperschmerzen und vermutlich auch eine Essstörung keine klare Diagnose erhielten. Sie fühlte sich von keinem Mediziner ernst genommen, da ihre präzisen Schilderungen zu schnell als Hypochondrie abgestempelt wurden. Immer wieder wurde ihr gesagt, dass nichts gefunden wurde oder dass sie sich ihre Beschwerden lediglich einbilde.

 

In meiner derzeitigen Arbeit mit Klientinnen und Klienten begegne ich vermehrt ähnlichen Situationen. Ähnlich wie bei meiner damaligen Patientin wird mir von einer sehr feinen Körperwahrnehmung berichtet.

 

Hierzu einige Beispiele:

  • "Ein winziges Stück ist von meinem Zahn abgebrochen, so klein, dass der Zahnarzt zweimal genauer hinsehen musste, um es zu entdecken. Dennoch hat mich dieses abgebrochene Stück den ganzen Tag wahnsinnig gemacht."

  • "Ich kann präzise lokalisieren, wenn etwas in meinem Körper nicht stimmt."

  • "Manchmal überkommt mich eine überwältigende Reizüberflutung durch meinen Körper."

  • "Medikamente wirken bei mir besonders stark. Meist benötige ich nur geringe Mengen davon. Doch mein Arzt glaubt mir das nicht"

 

Diese Aussagen stammen von autistischen, hochsensiblen, hochbegabten Menschen oder Personen mit ADHS. Oftmals handelt es sich um Menschen, die sämtliche Formen der Neurodivergenz aufweisen. Diese Menschen sind in der Lage, die aktuellen Vorgänge in ihrem Körper präzise zu beobachten und zu analysieren.

 

Dabei zeigen sie häufiger Symptome wie Allergien, Lebensmittelunverträglichkeiten, Magen-Darm-Probleme, Asthma oder Hauterkrankungen. Es lässt sich vermuten, dass ihre Körper wesentlich empfindlicher und empfänglicher für externe Einflüsse und interne Prozesse sind.

 

Ich bin der Überzeugung, dass Menschen wie meine damalige Patientin nicht nur auf körperliche Reize sensibel reagieren, sondern auch eine stark ausgeprägte Körperwahrnehmung besitzen – im Gegensatz zu dem, was vielen autistischen Menschen oft fälschlicherweise zugeschrieben wird. Ich gehe schon davon aus, dass es auch Hyposensitivität in Bezug auf körperliche Aktivitäten und -wahrnehmung gibt, wodurch der Körper beispielsweise eine höhere Medikamentendosis benötigt, um zu reagieren, oder kaum auf Schmerz reagiert, wobei die betroffene Person diese Prozesse nur unzureichend wahrnimmt. Möglicherweise existiert sogar ein Mischtyp, bei dem der Körper überempfindlich reagiert, die Wahrnehmung jedoch weniger ausgeprägt ist.

 

Daraus würden sich hypothetisch vier Typen anhand der Dimensionen Körperaktivität und Körperwahrnehmung ergeben:


Hypothesen:

1. Typ 1: Hochsensible Körperaktivität + hochsensible Körperwahrnehmung

2. Typ 2: Hyposensible Körperaktivität + hochsensible Körperwahrnehmung

3. Typ 3: Hyposensible Körperaktivität + hyposensible Körperwahrnehmung

4. Typ 4: Hochsensible Körperaktivität + hyposensible Körperwahrnehmung

 

Ich glaube, alle Menschen befinden sich in einem dieser Felder. Personen, wie meine ehemalige Patientin aus der Privatklinik, würden dem Typ 1 zugeordnet werden. Da dieser Typ besonders große Schwierigkeiten im Umgang mit Ärzten und Ärztinnen erlebt, gehe ich nur auf diesen Typ ein.

 

Problematik bei Ärzten des Multi-Neuro-Typs1

Wenn eine autistische, hochbegabte und hochsensible Person mit ADHS vom Typ 1 einen Arzt aufsucht, stoßen oft zwei unterschiedliche Welten aufeinander. Der multi-neurodivergente Typ 1 (kurz Multi-Neuro-Typ1) hat sich akribisch vorbereitet und möchte nun alle seine Symptome (inklusive aller Eindrücke, Analysen und Interpretationen) dem Arzt gegenüber äußern. Meist erwartet er oder sie einen einfühlsamen Gesprächspartner, der auf dem neuesten Stand der Forschung ist.

 

Häufig gestaltet sich die Realität jedoch anders: Die Ärzte verfügen meist über wenig Zeit, unterbrechen daher häufig oder ziehen falsche Schlüsse. Menschen vom Typ Multi-Neuro-1 verlassen solche Arztbesuche oft unzufrieden, mit teilweise falschen Diagnosen, fühlen sich nicht ernst genommen und letztendlich nicht unterstützt.

 


Vorgehensweise des (Multi-Neuro)-Typ 1 bei Arztbesuchen:

  • Sorgfältige Vorbereitung auf den Termin

  • Notieren sämtlicher Anliegen im Vorfeld

  • Eigenständige Recherche zu den Problemen

  • Nervosität während des Termins

  • Mitgebrachte Unterlagen/Notizen

  • Ausführliche Erläuterungen

  • Starke Monologe

  • VARIANTE 1: Ausführliches Schildern von

    • Symptomen und deren Lokalisation

    • Empfindungen der Schmerzen/Beschwerden

    • Eigene Erfahrungen, Gedanken und Interpretationen

    • Auftretungszeiten

  • VARIANTE 2: Vergessen während des Termins von

    • Ausführlichem Schildern nur eines spezifischen Problems

    • Wichtigen Punkten trotz intensiver Vorbereitung nicht benennen

    • Notizen oder Unterlagen vergessen

  • Wichtige Informationen erst spät im Gespräch mitteilen

  • Blackout und Unsicherheit bezüglich der eigenen Aussagen

 

Typische Reaktion der Ärzte auf den (Multi-Neuro-)Typ1:

  • Verdacht auf Hypochondrie:

    • "Das bilden Sie sich doch nur ein!"

  • Antipathie:

    • "Sie wissen ja ohnehin alles besser. Wollen Sie mein Job übernehmen?"

  • Fehlende Klärung des Anliegens durch den Typ1:

    • "Was genau erwarten Sie von mir?"

  • Mangelndes Ernstnehmen:

    • "Niemand kann so viel empfinden."

 

All diese Reaktionen sind in keinster Weise hilfreich. Besonders das mangelnde Ernstnehmen führt dazu, dass Betroffene weniger Hilfe in Anspruch nehmen.

 

Daraus können folgende Probleme entstehen:

  • Betroffene beginnen sich selbst zu "gaslighten" („Der Arzt meint, dass ich mir das nur einbilde. Es wird wohl stimmen!“)

    • Identitätsverlust aufgrund fehlender authentischer Bestätigung von außen

    • Intensiviertes Masking

    • Steigendes Risiko für Traumata

    •  Verschärfung von Beziehungsproblemen

    •  Zunahme von Vertrauensproblemen

  • Betroffene meiden Arztbesuche, da sie sich nicht ernst genommen fühlen.

  • Mehrfache Komorbiditäten (u. a. Depressionen, Burn-out, Angststörungen, körperliche Symptome) entstehen.

 

Mögliche Handlungsoptionen für Ärzte und Ärztinnen:

  • Alle Patienten gleichermaßen ernst nehmen!

  • Vorurteilsfreies Akzeptieren aller Empfindungen aller Patienten!

  • Wiederholt nachfragen!

  • Sich ggf. mehr Zeit nehmen

  • Weiterbildung im Bereich Autismus, ADHS, Hochbegabung und Hochsensibilität – nicht nur anhand von Stereotypen!

    •  Beachtung von Masking während der Sprechstunden!

  • Sich durch Direktheit nicht unmittelbar verletzt fühlen!

  • Überprüfen herkömmlicher Therapieansätze, da diese nicht für alle Patienten funktionieren.

  • Aufgeschlossenheit gegenüber alternativen Vorschlägen oder Therapien zeigen.

  • Menschlichkeit demonstrieren!

 

Was Menschen des Multi-Neuro-Typs1 tun können, um besser verstanden zu werden:

  • Sorgfältige Vorbereitung auf den Termin (z. B. Erstellung von Listen und deren Nutzung im Gespräch) (für Menschen, die zu Blackouts neigen)

  • Beachtung, dass insbesondere Hausärzte möglicherweise nicht über spezifisches Wissen zu deinen Problemen verfügen, d. h. Vorsicht bei Überwältigung der Ärzte mit Informationen (kein Info-Dumping)und der Annahme, dass der Arzt dein Problem bereits kennen müsste, da er Arzt ist.

  • Priorisierung der Probleme (das Wichtigste zuerst!) und anfängliches Nennen der Symptome; Ausführlichere Erklärungen nur bei Bedarf.

  • Vermutungen fragend äußern: „Könnte es vielleicht XYZ sein?“; auch wenn du bereits eine Diagnose vermutest, aufgrund umfassender Recherche.

  • Im Gespräch auf die mitgebrachte Liste hinweisen und wichtige Punkte vorlesen oder den Arzt selbst darauf blicken lassen: „Ich habe Symptome aufgeschrieben und würde gerne die wichtigsten davon vorlesen!“

  • Offen bleiben für eine abweichende Meinung des Arztes, da trotz umfangreicher Recherche eine fehlerhafte Diagnose möglich ist.

  • Bleibe deiner psychischen und körperlichen Wahrnehmung treu, auch wenn du dich missverstanden fühlst – lass dich nicht "gaslighten"!

208 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page