Ich habe länger überlegt, über welches Thema ich zu "Frauen und Autismus" schreiben soll. Es gibt so viele Themen und doch möchte ich über etwas schreiben, dass mich selbst auch irgendwie berührt und betrifft.
Etwas was mich selbst vor allem als Kind betroffen hat, war das Wahrnehmen der Realität, wie durch eine Glaswand. Konkret ausgedrückt: ich stand hinter der Glaswand und beobachtete die anderen. Der Zugang zu den anderen Kindern / Menschen war mir dadurch verwehrt. Ich wusste nicht, wie ich die Glaswand überwinden sollte, um zu der "anderen Welt" zu kommen. Zum Beispiel um mit anderen Kindern zu spielen. Ich hatte zwar selten das Bedürfnis mit den andern Kindern zu interagieren, viel mehr ging es mir darum, irgendwie dazuzugehören. ich wusste aber nicht wie. Ich spürte mein Anderssein sehr früh und wünschte mir, einfach dazuzugehören. Dazu gehört aber auch zu interagieren, was mir damals aber nicht so richtig klar war. So stand ich oft irgendwie herum und beobachtete genau. So als ob ich eine andere Spezies beobachtete. Oder ich beschäftigte mich allein. Ich fand es einerseits spannend, wie sich die anderen Kinder verhielten, versuchte herauszufinden, warum sie die Dinge auf eine bestimmte Weise taten - oder warum nicht. Und andererseits empfand ich ihre Welt als sehr "brutal". Sie war laut, denn Kinder schreien nun mal gern, und grob, denn Kinder schubsen auch mal gern. Doch das mochte ich überhaupt nicht.
Dann schützte mich die Glaswand wiederum. Denn ich wollte nichts damit zu tun haben, was in irgendeiner Weise brutal oder laut war. Davor hatte ich Angst. So kapselte ich mich, wann immer möglich oder nötig hinter meine imaginäre Glaswand ab.
Meine imaginäre Glaswand repräsentiert also folgende Punkte:
Unwissen, wie auf andere zugegangen werden kann
Mangelndes Verständnis für das Sein "neurotypischer Menschen" (nicht abwertend gemeint)
Bedürfnis der eigenen Welt als Rückzugsort
Dem gegenüber steht der Wunsch oder das Bedürfnis zu der Gruppe dazugehören zu wollen. Dadurch entsteht ein großer Druck bestehend aus zwei Kräften: die imaginäre innere Glaswand VS. der Wunsch dazuzugehören. Dieser Druck kann zu großem Leid führen, da man schnell nur zum Zuschauen verdammt ist - obwohl man eigentlich "mitmachen" will.
Gerade dieses Leid erfahren vermehrt autistische Frauen / Mädchen, da hier häufiger ein höheres Bedürfnis nach Teilnahme am sozialen Geschehen beobachtet wurde, als bei Jungs / Männern.
Oft wirken autistische Frauen oder Mädchen auf Neurotypische nicht unbedingt so, als ob sie am sozialen Geschehen teilnehmen wollen. Zum Beispiel wenn eine größere Veranstaltung stattfindet, befinden sich autistische Frauen meist eher am Rande des Trubels. Sie wirken teilnahmslos, beobachten nur oder stehen abseits. Doch meist gehen in ihnen mehrere Prozesse vor: die Verarbeitung der vielen Reize, Unvorhergesehenes so gut es geht voraussagen oder verarbeiten, Überlegungen zur evtl. Kontaktaufnahme, Lernen und Anwenden von sozialen Regeln. Und das meist alles parallel! Das funktioniert nur, wenn sich die autistische Frau hinter die Glaswand zurückzieht. Und das wirkt nun mal abwesend und teilnahmslos, maximal beobachtend. Dabei kann es sein, dass die autistische Frau das Geschehen relativ interessant findet, auch wenn es sensorisch überladend zugleich ist, und würde sich über eine Kontaktaufnahme eines anderen Beteiligten freuen.
Es gibt allerdings auch autistische Frauen, deren Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder Kontaktaufnahme so stark ist (z.B. aufgrund des Temperaments Extraversion), dass es ihnen leicht(er) fällt in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen. Das kann sich dann auch nur auf bestimmte Zeiträume oder Interessen beschränken, z.B. eine Frau, die Anime liebt, geht auf eine Convention und kommt leicht mit anderen Nicht-Autisten in Kontakt, die auch Anime lieben. Ob bei diesen autistischen Frauen ebenfalls das Gefühl der inneren Glaswand vorliegt, weiß ich nun nicht. Es kann auch sein, dass sie extremes Masking nutzen oder trotz der Glaswand in Kontakt mit anderen Menschen treten können.
Hier gilt es allerdings dann stark auf die eigenen Ressourcen zu achten, gerade wenn Masking Methoden eingesetzt werden.
Oszillieren mit der Glaswand
Über die Jahre habe ich durch viel Selbststudium über Autismus, dem Psychologie-Studium, Selbstreflexion, den Erhalt der eigenen Diagnose und dem Austausch mit anderen AutistInnen viel dazu gelernt.
Mit Dazulernen meine ich, wie und wann ich aus meiner Glaswand heraustreten kann und wann es Zeit ist, sich wieder zurückzuziehen. Damit meine ich, wie und wann ich mit anderen Menschen interagieren möchte, mich sichtbar machen möchte und dadurch mich der Spontanität ausliefere. Meine Glaswand wird zwar immer ein Teil von mir sein, aber ich möchte zumindest versuchen mehr an dieser Welt teilzunehmen. Oder mir die Wahl geben, wann und ob ich teilnehmen möchte. Mir Bedingungen und Möglichkeiten erarbeiten, sodass das "Heraustreten" sich nicht ganz so unbequem und überfordernd anfühlt.
Daher passt der Begriff oszillieren auch so gut. Oszillieren bedeutet schwingen oder pendeln. Ein Hin- und Herbewegen vor oder hinter der Wand.
Um das Oszillieren mit der Glaswand hinzubekommen, bedarf es Strategien und Erfahrungen:
Wann möchte / muss ich "heraustreten"?
z.B. Geburtstage, Firmenevents, Vorträge, Treffen mit Freunden, etc....
Mit welchen spontanen Reaktionen könnte ich rechnen?
Wo kann ich mich zurückziehen?
Was wird von mir erwartet?
Umgang mit Freunden / Kollegen / Partner / Familie,...?
muss ich viel interagieren?
Wie hoch ist mein Energielevel?
lässt das Event auch Absagen / Verschiebung zu, wenn es mir nicht gut geht und das Energielevel niedrig ist?
Kann ich mich vorbereiten?
Kann ich dort ICH sein - mit all meinen Facetten?
muss ich kurzfristiges Masking betreiben, weil mir sonst unangenehme Konsequenzen drohen?
Habe ich nach dem Event genug Zeit mich wieder zu erholen?
Garantiert gibt es noch viele weitere Punkte, die dabei helfen mit der Außenwelt klar zu kommen. Dieses sind jedenfalls meine wichtigsten Punkte.
Hallo! Ich gehöre zu den “extravertierten Autistinnen” und kenne das Gefühl der Glaswand dennoch sehr gut. Ich kann sie, glaube ich, leichter und öfter überwinden, doch generell fühle ich mich auch oft in dieser “Box”, wie ich es mir immer vorstelle.